Bischöfliches Kirchenmusikinstitut

© Alle Fotos: Jutta Hamberger, GCJZ Fulda
Wie antijüdisch sind Bachs Passionen?
Vortrag von Landeskirchenmusikdirektorin i.R. Christa Kirschbaum an der Katholischen Akademie
Christa Kirschbaum ist Kirchenmusikerin aus Leidenschaft. Sie wuchs in einem „evangelischen Biotop“ mit Bachs Musik auf. Und doch drückte sie sich als Kirchenmusikerin 20 Jahre lang davor, Bachs Passionen aufzuführen. Unter anderem wegen der Passagen, in denen „die Juden“ mit „Weg, weg mit ihm, kreuzige ihn!“ oder „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Jesus nach dem Leben trachten.
Kritische
Fragen ans kirchenmusikalische Erbe
Der
Vortragsabend „Antijudaismus bei Bach?“ am 21. März 2025 war eine Kooperation
der Katholischen Akademie mit der Gesellschaft für Christlich Jüdische
Zusammenarbeit GCJZ und dem Bischöflichen Kirchenmusikinstitut KMI in Fulda.
Für diese drei Institutionen begrüßten Ivona Gebala, Jutta Hamberger und Edith
Harmsen die Gäste.
Gewünscht
hätte man sich, im Publikum nicht nur einige ehemalige und aktive Chormitglieder,
sondern auch Chorleiter/innen der verschiedenen Fuldaer Ensembles zu sehen.
Denn: Auch in Fulda werden Bachs Passionen
regelmäßig und auf hohem musikalischem Niveau aufgeführt. Ihre Problematik und
die sich daraus ergebenden Irritationen allerdings werden so gut wie nicht
thematisiert oder für das Publikum greifbar gemacht. Das wirft Fragen auf. Sind
die Passionen als Gipfelwerke abendländischen Musikschaffens quasi kanonisiert und
werden deshalb als sakrosankt empfunden? Kann Tradition heißen, dass man mit
Verweis darauf jede Auseinandersetzung und Infragestellung negiert? Kann man
sich auf die Position zurückziehen, das mache ‚man‘ schließlich seit
Jahrhunderten so? Soll man die Judenfeindlichkeit akzeptieren, weil sie hier ‚nur‘
im historischen Kontext steht?
Christa Kirschbaum bezieht eindeutig Stellung
– nein. Die problematischen Facetten unseres kirchenmusikalischen Erbes gehen
uns alle etwas an. Sie sind auch keine Angelegenheit der evangelischen Kirche
allein, denn Bachs Passionen werden genauso in katholischen Kirchen oder weltlichen
Konzertsälen gespielt. Wollen wir dieses kostbare, musikalisch ergreifende Erbe
für uns heute lebendig und wahr halten, müssen wir uns mit seiner Historie
auseinandersetzen und dürfen unbequemen Fragen nicht einfach ausweichen.
Wer sind eigentlich „die Juden“ im Johannes-Evangelium?
Zunächst wäre einmal zu klären, wer „die Juden“ eigentlich sind. Christa Kirschbaum zitierte den Aufsatz „Wunderbare Musik, vergiftete Botschaft?“ von Axel Töllner, in dem dieser erklärt, dass „die Juden“ ein Begriff der Abgrenzung war. Das Johannesevangelium präsentiere mit diesem Begriff diejenigen, mit denen man sich als Leser/in nicht identifizieren möchte: „Die Botschaft ist: Wenn du zu den Jesusgläubigen gehörst, halte dich fern von ‚den Juden‘.“ Es ging also um eine innerjüdische Grenzziehung, es ging darum, sich zu profilieren und zu etablieren. Es ging nicht um jüdische Menschen – Jesus selbst genau wie seine Anhänger waren schließlich Juden. Der Evangelist wollte die Jesusanhänger als etwas ganz Besonderes charakterisieren und herausheben. Jesu Kreuzigung war kein religiöser Akt, sondern ein zutiefst weltlicher – Rom bestrafte einen politischen Aufrührer. Das Evangelium akzentuiert genau diesen innerjüdischen Konflikt.
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So gesehen könnte man den Antijudaismus-Vorwurf einfach abtun, wären die Folgen dieser Textpassagen nicht so gravierend gewesen, denn über die Jahrhunderte wurden sie als Begründung für Judenhass herangezogen. Martin Luther greift sie auf in seiner antisemitischen Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ – seither gelten sie als Kronzeugen christlichen Judenhasses. Bach kannte und besaß viele Schriften Luthers und teilte Luthers wesentliche Überzeugungen. Und mit Blick auf die Johannespassion ist zu konstatieren: Die Passagen, in denen über „die Juden“ gesungen wird, setzt Bach nicht beiläufig, sondern höchst dramatisch in Szene.
Verschiedene Zeiten – verschiedene Wahrnehmungen
Bach folgt also Luthers Verständnis und dem seiner Zeit auch in der Johannespassion. Nun sind aber Bachs Frömmigkeit und die des 18. Jahrhunderts nicht mehr unsere Frömmigkeit. Zu Bachs Zeit waren kirchlicher und weltlicher Antijudaismus die Regel. Genau das müssen wir heute ansprechen, weil wir uns nur dann auf die zutiefst menschliche Botschaft der Passion konzentrieren können.
Christa Kirschbaum zitierte auch den Kölner Bibelwissenschaftlicher Johann Michael Schmidt: „Die Passionen sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind verwurzelt in der Geschichte.“ Das bedeutet, das ihre Wahrnehmung und Wirkung zu verschiedenen Zeiten verschieden war. Besonders nach der Shoah sei es Aufgabe und Verpflichtung, die judenfeindlichen Passagen wahrzunehmen und neu zu erfassen. Da wir heute die Passionen – anders als zu Bachs Zeit – nicht mehr im Rahmen eines Gottesdienstes hörten, fehle die Auslegung in einer Predigt. Diese Dimension gehe im Konzert-Modus in der Regel verloren. Auffallend sei, wie voll Kirchenmusik-Konzerte sind. Ganz offenbar bewegt uns Bachs Musik uns auch 300 Jahre nach ihrer Entstehung zutiefst. Vielleicht, weil, so Kirschbaum, Kirchenmusik „nie dahinplätschere, es ginge hier immer um die Extreme – Schmerz und Freude, Liebe und Tod, Gefangenschaft und Befreiung.“
V-Effekt à la Bach
Christa Kirschbaum beließ es nicht beim Vortragen, sondern bezog das Publikum in die Problematik sehr praktisch mit ein. Wie? Nun – durch Mitsingen des Chorals 22 „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ aus der Johannespassion (kein Beispiel für Antijudaismus, sondern gut singbar fürs Publikum und deshalb ein ideales Beispiel, um sich mit Verfremdungsmöglichkeiten vertraut zu machen). Wir näherten uns diesem Choral ganz so, wie es ein unbefangener Kirchen- oder Konzertbesucher zunächst einmal tut: wunderbar, Bach mag ich und höre ich gern, okay – singe ich auch mit. Dabei wird das Gehirn noch nicht eingeschaltet. Das geschieht erst, wenn man es nachdrücklich dazu bringt, sich mit dem Gesungenen auseinanderzusetzen. Brecht hat fürs epische Theater den Verfremdungs-Effekt erfunden – bewusste Störer, die uns weg vom Geschehen und hin auf die Sinngebung lenken sollen. Setzt man sich und die Passionen dem V-Effekt aus, passiert Erstaunliches: Man beginnt, über Worte oder Sätze nachzudenken. Man stellt sich Fragen. Man sucht nach Hintergründen und Begründungen.
Insgesamt sieben Mal sangen wir diesen Choral – in verschiedenen V-Effekt-Versionen. Zunächst summten wir ihn, dann sangen wir ihn im Original, dann hielten wir uns die Hand vor den Mund bei Stellen, die uns nicht leicht über die Lippen kamen, dann setzen wir uns bei unverständlichen Passagen hin, dann seufzten und stöhnten wir bei Stellen, die uns am meisten irritierten, dann hielten wir in jedem der drei Abschnitte einen Ton nach Wahl länger an, dann sangen wir den gesamten Choral jeder in seinem eigenen Wunschtempo. Der Effekt war außerordentlich: denn mit jeder Version stieg man tiefer ein in den Choral – seine Schönheit genauso wie seine Abgründe. Die von Christa Kirschbaum ausgelöste Nachdenklichkeit wird noch lange in uns wirken.
Rituale – oder Musik aktiv hören
Ein Wort zum Schluss noch zur Frage, wie wir heute mit Musik umgehen. Hören wir sie wirklich, oder konsumieren wir sie nur? Gerade im klassischen Bereich ist Musikhören stark ritualisiert. Vielen Besuchern ist das Konzert ein lieb gewordenes bildungsbürgerliches Ritual, schöne Unterhaltung in schöner Umgebung, man fühlt sich wohl, und ist mit sich im Reinen. Wann je wird im Konzertsaal unser Problembewusstsein geschärft? Wann werden wir ‚erschreckt‘ und aus unserem Konsum-Modus herausgeschüttelt? Wie wird die Musik in unsere Gegenwart geholt? Nicht nur Bachs Passionen brauchen heute mehr Einführung und Hinführung für ihr Publikum, das gilt auch für andere Komponisten und Werke. Über die reine Ästhetisierung hinauszugehen ist ein weiterer Gedanke, den Christa Kirschbaum ihrem Publikum mitgab. Denn die allein reicht einfach nicht mehr.
Für den Umgang mit Bachs Passionen hat Christa Kirschbaum spannende Beispiele gesammelt. Vielen bekannt dürften John Neumeiers Versionen als Ballette sein. Ungewöhnlicher ist die Aufführung als Szenische Collage, in der Texte der Passion mit Texten aus den Verhandlungen des Volksgerichtshofs 1945 interpoliert werden. Man kann die Mitglieder eines Chors gezielt auf die Aufführung vorbereiten und Fragen zu den Texten stellen lassen – Fragen, die man später auch im Programmheft abdrucken kann. Interpolieren kann man die Texte auch mit Gedichten jüdischer Dichter/innen oder aktuellen Pressemeldungen. Und bei einer Aufführung kann man problematische Textstellen so hervorheben, so wie wir es am Vortragsabend mit Choral 22 gemacht haben.
Wer einmal damit begonnen hat, ‚Bildstörungen‘ wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen, wird spüren, welche Bereicherung darin liegt und wieviel kreatives Potential das Nachdenken darüber freisetzt. Es geht um das Verkündigungs- und Wirkungspotential der Bach’schen Passionen in unserer Zeit. Wir machen seine Werke und uns klein, wenn wir die Auseinandersetzung über ihre Problematik scheuen.
Jutta Hamberger

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